MUSIK UND MEDIEN
Referat von Bruno Spoerri, Zürich an der VISODATA (19.1.1983, München)

Der Musiker, der über die Erweiterung seiner künstlerischen Möglichkeiten durch die Medien reden soll, kommt zuallererst in ein gewisses Dilemma. Seine Einfälle beim Stichwort Medien kreisen um Probleme wie etwa die fast unbeschränkte Möglichkeit des berechtigten und vor allem unberechtigten Kopierens der musikalischen Werke und das vergebliche Nachrennen der Autorenrechtsgesellschaften hinter den technischen Realitäten neuer Werknutzungen, die autorenrechtlich nicht erfassbar sind. Dann kommt ihm in den Sinn, dass die ungeheuren Archive mit aufgenommener Musik immer mehr eine existentielle Bedrohung für seine Arbeit darstellen - je schlechter es den Besitzern solcher Archive finanziell geht, je öfter nutzen sie diese für den billigen Ersatz für neu hergestellte Musik. Ich denke da an die Reissues der Plattenindustrie, die Kommerzialisierung der Fernseharchive, wie z.B. des Pariser Institut national de l'audiovisuel, oder an die Modetendenz, an Schauspielhäusern Film-Soundtracks als Theatermusik zu verwenden. Trotz allen schönen Beschwichtigungsversuchen denke ich auch an den möglichen Tod der Analogschallplatte, die Konzentration der Herstellung der Compact disc auf einige wenige Grosshersteller und die damit verbundene Pleite der herkömmlichen Presswerke, als Folge davon die praktische Unmöglichkeit, Kleinauflagen mit anspruchsvoller Musik überhaupt noch herzustellen. Allerdings (und das steht im Widerspruch zum vorher Gesagten): die sinkende Ertragskraft der Schallplattenindustrie in den Händen der Grosskonzerne kannte diese bewegen, auf ertragreichere Geschäfte wie etwa Videospiele, Herstellung von Leerkassetten etc umzusteigen. Die entstehenden Marktlücken könnten unter Umständen das Ueberleben der kleinsten Hersteller und Vertriebe ermöglichen.

Erst, wenn diese Gedanken weggeräumt sind, mag man als Musiker an die neuen Möglichkeiten denken, die diese Medien gebracht haben. Dabei stellt man mit einem gewissen Erstaunen fest, dass einem diese neuen Möglichkeiten schon so selbstverständlich geworden sind, dass man sie gar nicht ohne weiteres mehr wahrnimmt. Ich möchte daran erinnern (und weitgehend damit Herrn Prof. Blaukopf zitieren): im Gegensatz zu anderen Kunstrichtungen, in denen immer noch die Herstellung von Einzelstücken oder kleinen Serien typisch ist, ist Musik ohne Verbreitung durch die Massenmedien und ohne die Hilfsmittel, die diesen Medien innewohnen, heute undenkbar. Die Darbietung von Musik durch Radio, Fernsehen, Schallplatte usw ist heute der Normalfall, die unmittelbare Einzelaufführung ohne Medienbeteiligung die Ausnahme. Alle durch elektroakustische Mittel verbreitete Musik ist durch gewollte und ungewollte Eingriffe verändert, manipuliert (Hall, Frequenzgang, Dynamik) und somit, extrem gesagt, von der elektronischen Musik, genauer der Musique concrète, nur noch graduell, aber nicht mehr qualitativ abzugrenzen. Die bewusste, aber in ihrer Bedeutung nicht hinterfragte Benützung aller elektro-akustischen Eingriffsmöglichkeiten haben vor allem Pop- und Jazzmusiker betrieben und zur Vollkommenheit ausgebaut. In der etablierten Musik, auch in der, die sich oft paradoxerweise immer noch Avantgarde nennt, werden die selben Mittel oft ohne Bemühen um Perfektion, sogar mit Angst davor, benützt, was oft zu eigenartigen Resultaten führt (Riesenaufwand für kleines Resultat).
Alle die neuen technischen Möglichkeiten zu zitieren wäre müssig und für Sie sicher auch nicht neu. Was mir viel interessanter scheint, ist die Rückwirkung, die diese technischen Eingriffsmöglichkeiten auf die Musik selbst, auf den Kompositionsprozess und auf die Musiker haben. Der Musiker, der sich vor allem mit elektronischer Musik abgibt, lebt hier in einem Dilemma: die Faszination, Musik mit Hilfe von raffinierten technischen Mitteln machen zu können, allein ganze Orchester hinzuzaubern, sich immer neue Kombinationen auszudenken, wird immer wieder abgelöst durch Schreckmomente, in denen man sich vorstellt, wohin schlecht gemachte und gedankenlos angewendete elektronische Musik führt. Ich bitte Sie, mein heutiges Referat aus dieser Situation heraus zu verstehen, aus der Situation eines Musikers, der nicht vom überlegenen Standpunkt des Kritikers oder Theoretikers ausgeht, sondern aus der Betroffenheit der täglichen Konfrontation mit Widersprüchen heraus spricht.

Das Phänomen der Rückwirkung der technischen Möglichkeiten auf die Musik ist im Prinzip alt: denken wir nur etwa daran, wie sehr die Komposition von Filmmusik bis vor relativ wenigen Jahren von den technischen Problemen des Lichttons geprägt war. Das entscheidende Ereignis in der Musikwelt stellt die Möglichkeit des Schnittes, des willkürlichen Trennens und Zusammenfügens von Musik, dar. Die Aufhebung der technischen Grenzen des Instrumentalisten durch den Tonbandschnitt und durch die nachträgliche Korrektur von Fehlern zB der Intonation durch den tonhöhenverändernden Harmonizer führt dazu, dass an die Live-Aufführung immer höhere Ansprüche gestellt werden, da der Hörer die selbe Perfektion wie auf der Schallplatte erwartet. Das Ideal der Fehlerlosigkeit auf Kosten der Geschlossenheit, der grossen Linie, der Spontaneität führt zur Unempfindlichkeit gegenuber dem Verlust der grossen Form. Die elektronische Musik hat mit der Einführung des Sequencers einen weiteren Schritt in die selbe Richtung gemacht: der vorprogrammierte Sequenzer arbeitet als Uebervirtuose, der technisch perfekte Musiker ist synthetisch herstellbar geworden.
Mit dem Sequenzer, der in der elektronischen Musik allgegenwärtig geworden ist,hat sich zudem etwas in die Musik eingeschlichen, das ich das Trägheitsprinzip der elektronischen Musik nennen möchte : der Sequenzer, einmal programmiert und zum Laufen gebracht, ist nur noch mit einem gewissen Aufwand an Arbeit und Ueberlegung modifizierbar. Diesen Aufwand nehmen immer weniger Musiker auf sich. Die Tendenz, ganze Stücke über einen gleichbleibenden Rhythmus mit gleichbleibender Basslinie und eventuell sogar auf ein Minimum reduzierter Harmonik und Melodie aufzubauen, ist unüberhörbar, und es scheint typisch für die neuen Hörgewohnheiten von Musik zu sein, dass diese Art der Herstellung von Musik sowohl in der Popmusik wie in einigen Gebieten der sog ernsten Musik zu den grössten Erfolgen geführt hat.

Die Tendenz, eine neue, in der Laborsituation des Tonstudios entwickelte musikalische Technik auf die Live-Situation zu übertragen und sie sich als Vorlage zu nehmen, treffen wir überall an. Der Instrumentenklang wird von den Herstellern und Musikern auf Mikrofontauglichkeit getrimmt resp dem im überall an. Der Instrumentenklang wird von den Herstellern und Musikern auf Mikrofontauglichkeit getrimmt resp dem im Tonstudio erzeugten Sound anderer, erfolgreicher Musiker angeglichen.
Die aus der Filmmusik übernommene Technik des Clicktrack, mit dem die Musik genau auf den Handlungsablauf synchronisiert wird, wurde seit der Discowelle auch für die Aufnahme von Tanzmusik verwendet und führte dazu, dass immer mehr Schlagzeuger wie elektronische Rhythmusmaschinen spielen und sogar den Klang ihrer Instrumente immer mehr dem Klang der elektronischen Schlagzeuge angleichen. Noch vor kurzem wurde versucht, mit Hilfe von Vocodern Singstimmen nachzubilden, heute hört man Sänger, die mit ihrer Singstimme versuchen, den typischen Vocoderklang nachzumachen.

Aber auch diese Entwicklung, die nicht nur auf die Popmusik beschränkt ist und auch auf die sogenannte ernste Musik übergreift, die aber oft noch gar nicht ins Bewusstsein gedrungen ist, ist schon historisch: Heute erleben wir im Grunde genommen schon das Ende der synthetisch hergestellten Musik in ihrer bisherigen Form: wir erleben, dank neuen digitalen Mitteln, die Ablösung des synthetischen Nachbildens von Klängen durch die direkte Verwendung des Abbildes der Realität oder anders gesagt: eine Wiedergeburt der Musique concrete in neuer Form. Die Musique concrète, von Pierre Schaeffer und Pierre Henry in den fünfziger Jahren geprägt und nach einigen Jahren durch die mehr dem damaligen Zeitgeist entsprechende elektronische Musik deutscher Schule ins Abseits gedrängt, verarbeitete mit technischen Mitteln reale Klänge. Digitale Speicher und Manipulationsmöglichkeiten erlauben heute die Schaffung vollkommener Illusionen, übrigens nicht nur im Hörbereich, sondern auch im visuellen Gebiet: die amerikanische Lucasfilm verfügt über Geräte, die aus dem digital gespeicherten Klangarchiv praktisch sofort Klänge abrufen und weitgehend verändern können. Ebenso ist es möglich, Filmbilder zu animieren: die prinzipielle Möglichkeit, auf Animationsbasis einen neuen Film mit Marylin Monroe herzustellen, lässt einen leicht erschaudern. Diese neue Technik bringt im Grunde genommen die sofortige Ueberwindbarkeit von Raum (Abrufbarkeit von Meeresrauschen) und Zeit,die Schaffbarkeit der vollkommenen akustischen Illusion. Es ist natürlich faszinierend, im Prinzip sämtliche Klänge zur Verfügung und manipulierbar zu haben. Allerdings hat auch dies Rückwirkungen auf die Musik, die nicht auf den ersten Blick offensichtlich sind. Pierre Schaeffer schrieb 1949: "Unsere Musik haben wir konkret genannt, weil sie auf vorherbestehenden, entlehnten Elementen einerlei welchen Materials - seien es Geräusche oder musikalische Klänge - fusst und dann experimentell zusammengesetzt wird aufgrund einer unmittelbaren, nicht-theoretischen Konstruktion, die darauf abzielt, ein kompositorisches Vorhaben ohne Zuhilfenahme der gewohnten Notation, die unmöglich geworden ist, zu realisieren." Der konkrete Musiker geht aus von Materialien, die er bereitstellt, mit denen er experimentiert und die zu einer materiellen Komposition führen - eine Arbeitsweise, die der traditionellen Kompositionsweise der abendländischen Tradition genau entgegenläuft: diese Tradition geht aus von einer geistigen Konzeption, die niedergeschrieben wird und dann erst in der instrumentalen Ausführung konkret wird. Die empirisch tastende Arbeitsweise, die der Musique concrète die Gegnerschaft von Komponisten wie Pierre Boulez eingebracht hat, ist die Arbeitsweise der meisten Popmusiker, deren Ideen zum grössten Teil aus dem Spiel mit Materialien stammen. Diese Art des Vorgehens führt naturgemäss zur Vorherrschaft der kleinen Form und zur Entwertung der Grossform, eine Entwicklung,die übrigens schon in der Filmmusik vorgegeben ist. Auch dort wird seit langem Musik ohne grosse Form produziert, Musik, die aus unvollständigen Stücken, Melodie- und Klangfetzen besteht und bei der der Sound und die mit einem kurzen Fragment hervorgerufene Stimmung entscheidend wichtig ist.

Ein heutiges Kind lernt Musik in erster Linie über Medien kennen: es sieht Musiker in Nahaufnahme, kann die Hände des Pianisten aus nächster Nähe verfolgen, lernt aber durch die Anwendung der Playbacktechnik vor allem den Musiker als Mimen oder böser gesagt, als Hampelmann kennen. Die optischen Begleiterscheinungen von Musik werden wichtig. Der Fernsehschirm schafft künstlich Nähe zum Musiker, eine Nähe, die im grossen klassischen Konzertsaal oder im Popkonzert nicht zu erreichen ist (vielmehr durch die Vergrösserung der Auditorien immer mehr verloren gegangen ist). Die Nahaufnahme bringt "Hautnähe", aber auch die Gefahr, Uninteressantes und Unwichtiges zum Ereignis hochzustilisieren. Energie, Power, optische Wirksamkeit, In-sein treten an die Stelle traditioneller Werte wie Ausdruck, Nuanciertheit (wiederum nicht nur in der Popmusik).
Damit verbunden ist eine weitere Entwicklung, die der Soziologe Kurt Blaukopf schon vor Jahren gesehen hat: "Die Loslösung der ursprünglichen musikalischen Darbietung von ihrer technischen Reproduktion schafft einen neuen Typus des Reproduzierenden: den Menschen, der mit Knopfdruck und mit Betätigung von Reglern die einmal gespeicherte Musik in jedem beliebigen Moment erklingen lassen kann." Schallplattenhersteller auf der ganzen Welt sehen diesen Typus mit Schrecken. Das Wort "die Konsumenten sind selber zu Herstellern geworden" oder die Aussage von Siegfried Loch (WEA):"jeder Besitzer eines Cassettenrecorders ist sein eigener Tonträgerhersteller" hat mehr zu bedeuten als nur den Rückgang der Schallplattenverkäufe durch das Kopieren auf Cassette. Wer Musik vom Radio oder von Schallplatte auf Kassetten kopiert, tut nämlich mehr als nur kopieren: er stellt eine neues Programm her, und zwar oft eines, das er mit Hilfe von zusätzlichen technischen Mitteln modifiziert hat.Die Industrie stellt in zunehmender Menge Geräte her, die Klangmanipulationen erlauben, die man früher nur im Tonstudio machen konnte. Der im Fernsehapparat und im Kleincomputer eingebaute Synthesizer ist schon eine Realität, das Mini-Tonstudio für den Tonamateur nicht mehr weit weg von der Massenverbreitung.
Das, was in vielen kommerziellen Schallplattenproduktionen schon real ist, nämlich die Verwendung des Musikers lediglich als Produzent von klanglichem Rohmaterial, das dann im Studio beliebig manipuliert wird, wird auch in den Heimbereich eindringen. Immer mehr wird der bisherige Konsument zum Hersteller, und dies hat beileibe nicht nur negative Seiten: der Musikkonsument ist nicht mehr zeitlich und örtlich an ein Musikangebot gebunden und entwickelt , wenn auch in einem beschränkten Masse wieder eine Eigenaktivität und fällt eigene Entscheidungen. Gewiss, er stellt mit seinen Mitteln nur Variationen von Bestehendem her. Die Fernsehwand, die in Bradburys "Fahrenheit 451" der guten Frau Mildred Montag zur Pseudokommunikation dient, wird ergänzt durch das Heim-Tonstudio, das die Herstellung von Musik aus vorgegebenen Elementen erlaubt. Die Rolle des Musikers wäre in diesem Zusammenhang wieder neu zu überdenken. Vielleicht muss er sich neu definieren als Lieferant von Spielideen, Rohmaterial, Spielvorlagen, Ideen im Rahmen von technischen Geräten, auch als Animator zum Selbst-Tun. Vor allem aber könnte seine Zukunft darin liegen, die bestehenden technischen Mittel zu etwas Neuem umzufunktionieren: Genau so wie der Bandschnitt, zur Korrektur von Fehlern der Interpreten erfunden, von Schaeffer und Henry zum eigenständigen künstlerischen Mittel umgebaut wurde, wird der Musiker wieder schauen müssen, die technischen Mittel so zu nützen, dass nicht sie die Herrschaft über ihn gewinnen, sondern ihm willig dienen.