All that jazz about Jazz

publiziert in der Broschüre zur Ausstellung "Jazz in der Schweiz" der SKA (Crédit Suisse) 1994/2000

Gedanken über Musik, Medien und Maschinen

"Jazz is like a kick in the ass. It will be always here." (Chico Hamilton in einem Fernseh-Interview mit Roman Polanski am 10.3.93)

Jazz macht müde Europäer munter.
Bei Jazz zur Pasta, zum Cüpli oder zum Bier tauchen Erinnerungen auf, auch Wehmut - waren da nicht einmal jugendliche Emotionen, Wildheit, Rebellion? Und da stehen nun Jazzmusiker auf der Bühne, die stellvertretend für das Publikum Freiheit und Ungebundenheit zelebrieren, Man kann sie anschauen wie die wilden Tiere im Zoo und dann getrost in die saubere Wohnung zurückkehren. Wehe, wenn sie sich nicht benehmen wie erwartet, sich etwa in echte Abenteuer einlassen und nicht nur so tun als ob.

"Die Musik war von Katja Alves, am Mikrofon war ..."(Ansage bei Radio DRS 3)

Musik ist das Rohmaterial, das von Medienleuten in Radio, Fernsehen, Film und Theater dazu benützt wird, um "ihre" Sendung oder Aufführung zu machen. Darum ist die zitierte Formulierung richtiger, als den Radioleuten selber bewusst ist: die Musik kommt tatsächlich nicht etwa von Elton John, Polo Hofer oder Bob Marley; die wirkliche Komponistin ist die Musikredaktorin bei DRS 3. Sie ist "compositor", Anordnerin, Abfasserin der musikalischen Botschaft, sie sorgt dafür, dass die Klänge gut zusammenpassen, dass kein Misston zur Unzeit unser Ohr erreicht. Es gelingt ihr sogar immer wieder, Tempi und Tonarten so geschickt zu wählen, dass der Hörer erst beim Einsatz der Singstimme realisiert, dass er schon längst von Madonna zu Michael Jackson transferiert wurde. Es braucht Köpfchen, Ohren und gute Organisation für diesen Job, will man nicht die Uebersicht verlieren über die vielen silbrigen Scheibchen voll Verbrauchsmaterial, die ins richtige Sendegefäss gepackt werden sollten.
Jazz traditioneller Faktur, leichte Klassik, Schlager, Pop lassen sich problemlos auf diese Art behandeln. Die Stücke, Interpreten und Stile sind beliebig austauschbar; im Grunde genommen ist es völlig wurst, ob Patent Ochsner, Louis Armstrong, Mick Jagger, Eddie Harris, Peter Maffay oder wer immer gespielt wird.

"Mir scheint, der Schreiber hat nicht ganz begriffen, worum es bei einem Open-air geht: um das pure Erlebnis, das hautnahe Miterleben der Musik, und keiner macht sich Gedanken über Kopisten." (Leserbrief von Karin Wegmann im Tages-Anzeiger 19.7.93)

Und wenn die Karin recht hätte? Und die Kritiker wirklich saure Miesmacher und Spielverderber wären? Im Showbusiness gilt grundsätzlich, dass das Publikum immer recht hat. Und es ist nicht abzustreiten, dass -zigtausende die verschiedenen Festivals freiwillig, offenbar sogar mit Genuss, besucht haben und sogar Unwetter als zusätzliches Vergnügen (wie war das ja in Woodstock?) betrachtet haben. Die Erlebniswelt Festival mit zugehöriger Erlebnisgastronomie und Erlebnisreise ist gefragt, die Musik sollte zwar zum Erlebniskonzept passen, ist aber im einzelnen völlig auswechselbar. Statt Reggae geht auch Brazil sound, statt Miles irgendeiner seiner ehemaligen Sidemen, statt Jazz-Rock Rock-Jazz und so ewig weiter. Der richtige Mix und die richtige Erlebniskurve zählen für das Publikum, die eigentlichen Künstler sind die Programmgestalter (wie war das doch eben im Radio?).
Klar: Festival ist nicht gleich Festival. Montreux und Fabrikjazz tragen nicht die gleichen Etiketten. Die Gemeinsamkeiten scheinen mir allerdings grösser als die Unterschiede: was dem einen sein George Duke, ist dem andern sein Werner Lüdi.

"Die zweite Inferiorität des Menschen: er ist leicht verderblich und von der "industriellen Reinkarnation" ausgeschlossen." (Günther Anders in: "Die Antiquiertheit des Menschen")

Alles mit irgend einem technischen Mittel Aufgezeichnete erhält ein Eigenleben und lebt weiter, unabhängig vom produzierenden Musiker. Anders formuliert: Wenn heute alle Musiker auf einen Schlag sterben würden - es vergingen Monate, wenn nicht Jahre, bis die Tatsache dem breiten Publikum wirklich bewusst würde. Die angehäuften Musikkonserven ermöglichen ein Weitergehen des Musikbetriebes während Jahren. Recycling, in der Musikbranche seit vielen Jahren bedeutend effizienter gehandhabt als in der übrigen Wirtschaft, beschert uns in periodischen Wellen Enrico Caruso, Elvis Presley und Nat King Cole (mit und ohne Tochter), jeweils mit dem neuesten technischen Verfahren entstaubt, neu verpackt und wieder vermarktet.
In diesem Kreislauf ist der einzige Störfaktor der lebendige Musiker, der darauf besteht, zu Lebzeiten angehört und publiziert zu werden. Als kreatives Individuum mit dem Anspruch auf Verbreitung seiner musikalischen Botschaft ist er aber in dieser Logik immer chancenloser.
Möglicherweise ist es ein Geniestreich der Techno-Pop-"Sampler", sich durch ihre Altstoff-Verwertung in den Reproduktionskreislauf einzuschleichen und neuerdings sogar mit aktiver Hilfe der Plattenfirmen Restenverwertung zu betreiben. Das Tonmaterial der Firma "Blue Note" wird uns durch US 3 in Fetzen rhythmisch um die Ohren geschlagen, Glenn Miller's "In the mood" mit zusätzlichem Schlagzeug auch für gänzlich Unbegabte tanzbar gemacht, Miles Davis posthum als Hip-Hopper angeboten.
Wenn ein Künstler sich aus diesem Kreislauf heraushalten möchte, bleibt ihm nur übrig, Ereignisse zu produzieren, die nicht oder wenigstens nicht gänzlich aufzeichenbar sind. (Schöne Theorie - spätestens seit dem "Woodstock"-Film ad absurdum geführt.)

"Die Loslösung der ursprünglichen musikalischen Darbietung von ihrer technischen Reproduktion schafft einen neuen Typus des Reproduzierenden: den Menschen, der mit Knopfdruck und mit Betätigung von Reglern die einmal gespeicherte Musik in jedem beliebigen Moment erklingen lassen kann."(Kurt Blaukopf in: "Akustische Umwelt und Musik des Alltags", Neue Zürcher Zeitung 19.7.1980))

Die Konsumenten sind zu Herstellern geworden, "jeder Besitzer eines Kassettenrecorders ist sein eigener Tonträgerhersteller" (Siegfried Loch, WEA). Dies bewirkt mehr als nur den Rückgang der Schallplattenverkäufe durch das Kopieren auf Kassette. Wer Musik vom Radio oder von CD auf eine Kassette kopiert, stellt eine neue Musikauswahl her, und zwar oft eine, die er mit Hilfe von zusätzlichen technischen Mitteln modifiziert hat. Die Industrie stellt immer mehr Geräte her, die Klangmanipulationen erlauben, die früher nur im professionellen Tonstudio machbar waren. Filterung, Hall, Tempoveränderung sind nur einige Stichworte. Das digitale Mini-Tonstudio im PC ist bald in finanzieller Reichweite der Kids; der Sampler im Ghettoblaster und der selbst gemixte Videoclip sind nahe.
Es wäre zu fragen, welche Rolle (wenn überhaupt) der Musiker in diesem Spiel übernehmen soll. Müsste er sich vielleicht neu definieren als Lieferant von Spielideen, von musikalischen Halbfabrikaten als Rohmaterial oder als Animator?

"Machines have no monopoly on mechanical musical performance" (Curtis Roads)

Musikautomaten und mechanisches Klavier sind seit langem bekannt. Heute haben wir das Home-Keyboard mit Begleitautomatik, eingebauten Schlagzeugrhythmen und per Diskette ladbaren, vorgefertigten Stücken. Die MIDI-Sequenzertechnik mit ihren raffinierten Spielhilfen und der Möglichkeit, Rhythmussequenzen, "Grooves" im Handel ohne weiteres zu erwerben, ermöglicht eine Collagentechnik, die auch ohne Talent zu bewältigen ist. (Möglicherweise hat die MIDI-Revolution vor allem dazu geführt, dass noch mehr Leute im Durchschnitt schlechtere Musik machen.)
Die Herstellung elektronischer Musik ist für den Besitzer einer derartigen Einrichtung nicht mehr ein mühsamer, langsamer Vorgang, sondern ein Kombinieren vorfabrizierter Elemente in vorgegebenen Form- und Handlungsschemata (frei nach Günther Anders: der "radebrechende" Musiker, dessen Text vom Computer in richtige Sprache übersetzt wird). Die Musikindustrie hat mit der Vermarktung und Simplifizierung einzelner Konzepte der Computermusik eine Illusion der Mühelosigkeit geschaffen - eine Illusion, der sogar viele Musiker erliegen, die sich von der Popmusik fernhalten. Durch die Reklame der Schallplattenkonzerne wird um dieses Techno-Brimborium ein Mythos der Kreativität verbreitet, der weitherum gutgläubig akzeptiert wird.
Harmonielehre ist ein erlernbares System von Regeln. Es kann vom Computer ebenso gut erlernt werden wie vom Konservatoriumsschüler - vielleicht sogar besser, da beim Computer keine emotionellen Widerstände dagegen zu überwinden sind. Die mechanische Anwendung von Regeln der Harmonielehre, des Kontrapunkt und der Formenlehre zur Komposition (was immer das heissen will) ist von einem Computer problemlos zu bewältigen. So sind in den frühen Siebzigerjahren einige Programme entstanden, die gregorianische Choräle, mittelalterliche Polyphonie und traditionellen Kontrapunkt erzeugen. Der Lörracher Jazzpianisten Hans Deyssenroth schrieb 1981 ein quasi-improvisierendes Programm, dessen Resultate an Weather Report erinnern. David Cope ("Computers and musical style") hat in den letzten Jahren mit dem Computer Stücke hergestellt, die verblüffend genau die Stile von Bach, Mozart, Chopin und Scott Joplin imitieren. Im Gebiet des Jazz existieren heute Programme, die eine mittelprächtige Begleitcombo ersetzen.
Müssen wir Komponisten vielleicht vom hohen Ross herabsteigen? Ich bitte, mich recht zu verstehen: ich meine keinesfalls, dass der Computer im engeren Sinn komponieren kann. Eine Komposition entsteht gewiss nicht einfach aus der mechanischen Anwendung von Regeln. Aber es dürfte sich lohnen, einmal darüber nachzudenken, wo die Trennlinie zwischen Fleissarbeit und Geniestreich liegt.

"Der Computer zeigt uns den maschinellen Anteil in uns. Diese maschinellen Anteile an uns und unserem Verhalten sind etwas, was auch der Computer tun kann. Die Frage, ob der Computer die Funktionen unseres menschlichen Denkens übernehmen kann, sollte uns doch mehr zu denken geben. Sie sollte uns auf uns selbst verweisen und auch die andere Frage provozieren, ob wir nicht mit dem, was wir für unsere Denkleistungen halten, dem Computer schon so weit entgegengekommen sind, dass diese fraglos auch zu möglichen Leistungen eines Computers geworden sind. Ob wir uns also in unserer Auffassung von uns selbst dem Computer schon ähnlich gemacht haben." (Bernd Mahr in: "Die Herrschaft der Gebrauchsanweisung", Kursbuch 1984)

Der heutige Hausmann hat mit grösster Selbstverständlichkeit seinen mikroprozessor-gesteuerten Backherd, der Sekretär sein Textsystem mit Bildschirm und Drucker, die Managerin ihren Personal Computer, auf dem sie schöne Diagramme für die nächste Konferenz austüftelt - einzig vom Musiker erwartet man immer noch, dass er mit Notenpapier, Bleistift und gerauften Haaren vor dem Klavier sitzt und auf die göttliche Inspiration wartet. Ein Computer auf der Bühne in einem Jazzkonzert durchbricht immer noch ein Tabu. Jazzkritiker können dadurch derart verstört werden, dass sie sogar ein normales Saxophon nicht mehr als solches erkennen. Ein Clown, der eine grossartige Musiknummer mit einem interaktiven Computersystem aufgebaut hatte, musste nach einiger Zeit aufgeben, da das Publikum in einer Clownnummer keine Technik akzeptierte.
Interessanterweise werden Musiker, die in der Art von Popmusikern mit starren Sequenzerprogrammen arbeiten, eher akzeptiert als diejenigen, die sich auf kreative Abenteuer mit dem Gehilfen Computer einlassen. Alvin Curran, Laurie Spiegel, Dexter Morrill, Bruce Pennycook und David Wessel sind nach wie vor ins Avantgarde-Lager verbannt, einzig George Lewis darf gelegentlich an Jazzfestivals spielen (solange er seinen Apple zu Hause lässt). Der Computer als interaktiver Improvisationspartner löst Angstvorstellungen über musizierende Roboter aus. Wenn ich mich an den Bassisten erinnere, dessen Soli jeweils von der ganzen Band mitgesungen wurden, an das Orchester, das über Jahrzehnte die gleichen Stücke gleich spielte und an die Solisten, deren Licks schon Takte vorher erahnbar waren, freue ich mich wieder auf die Interaktion mit dem dummen kleinen Rechner, dem doch gelegentlich eine verblüffende Antwort gelingt.

"I know nothing about technology. I never read the manuals. I never wanted to be a keyboard player. I've always hated keyboard players, in fact. " (Derry Brownson, Keyboarder der englischen Gruppe EMF, in: "Keyboard", July 1993)

Schon die Original Dixieland Jazzband baute einen wesentlichen Teil ihrer Medienreputation auf Sätze wie "None of us know music" oder "Jazz, I think, means jumble" (zitiert von Gunther Schuller in "Early Jazz"). Man weiss, dass solche Aussagen vor allem dazu dienten, ahnungslose Journalisten auf den Arm zu nehmen. Noch heute geistert in manchen Gehirnen die Meinung herum, dass musikalisches Wissen und Können die Kreativität zerstöre.
Erst die heutige Technik hat eine neue Spezies hervorgebracht: Leute, die kein Musikinstrument spielen können und trotzdem Musik produzieren - und sich deswegen kein bisschen schämen. Dank der segensreichen Erfindung der schwarzen Tasten erzeugen sie ihre Melodien (wenn schon) am liebsten in Fis-Dur, vor allem aber bedienen sie sich hemmungslos im Warenlager der vergangenen Musik.
Wir sträuben uns dagegen, diesen Klangbastlern die Bezeichnung "Musiker" zuzugestehen - als wenn die "Musique concrète" von Pierre Schaeffer und Pierre Henry nicht schon vor Jahrzehnten den Plattenspieler und das Tonbandgerät zu Musikinstrumenten gemacht hätten.

"A l'heure actuelle, il est probable qu'on me reprochera de n'avoir pas retenu de disques d'orchestres comme Benny Goodman, Woody Herman, Stan Kenton. J'ai tout lieu de croire que d'ici quelques années personne ne songera plus à me faire un tel grief." (Hugues Panassié im Vorwort zur "Discographie critique des meilleurs disques de Jazz")

So alt wie der Jazz sind die Versuche, das auszugrenzen, was "Nicht-Jazz" ist. Weisse Musiker im allgemeinen und Benny Goodman im besonderen, Red Nichols, Charlie Parker und fast alle mit dem Be-bop verbundenen Musiker, Ornette Coleman, die Free-Jazzer, Miles Davis nach "Bitches Brew" etc. etc. - alle traf das Verdikt der strengen Richter. Innovatoren hatten es nie leicht im Jazz, und doch gelang es ihnen im Verlauf der bisherigen Jazzgeschicht immer wieder, sich gegen die Gralshüter des "wahren Jazz" durchzusetzen und den Bereich des Möglichen zu erweitern. Mir scheint, dass heute die konservativen Tendenzen stärker sind als je zuvor - Neuerungen haben gefälligst ausserhalb des Jazz stattzufinden. Ist der Jazz wirklich tot?

"Was Leute wie Courtney Pine lernen müssen, ist, dass eine der Traditionen dieser Musik Individualität ist. Deine Stimme. Wer bist du? Welche Musik hast du? Man kann nicht die Vergangenheit wiederbeleben.Es wird keine Coltranes und keine Davises mehr geben" (Lester Bowie Interview in: "Jazzthetik" Juni 1993)

Louis Armstrong, Count Basie, Duke Ellington und viele andere sind nicht mehr unter uns. Ebenso fehlen uns - und das wird oft vergessen - Kurt Weill, George Gershwin und Jerome Kern, also die Komponisten der Songs, die das Material bildeten für die Improvisationen der Jazzmusiker.
Und noch etwas ist nicht mehr da: das Klima, in dem Jazz entstand. Diese Feststellungen haben nichts mit Nostalgie zu tun und schon gar nicht mit romantischer Verklärung einer Epoche, die in Vielem alles andere als schön war. Sie wollen nur zeigen: Jazz ist anders geworden und spielt sich in einem völlig veränderten Umfeld ab, in dem traditionelle Werte wie Swing-Feeling und Improvisation einen ganz anderen Stellenwert als bisher erhalten haben. Unsere Ohren haben sich seit der Herrschaft der binären Rhythmen verändert. Für die junge Generation und auch für einen Teil der älteren Semester sind die feinen Unterschiede zwischen swingender Phrasierung und maschinenmässig präziser Virtuosität nicht mehr erfassbar.
Ist es da noch möglich, Swing, Be-bop, auch Free-Jazz zu spielen, wie wenn sich nichts geändert hätte?

"Die jungen Musiker scheinen damit zufrieden zu sein, dass ihre Platten in den Läden direkt neben den reissues stehen: die gleichen Stücke, die gleichen Töne, die gleichen Arrangements. Nur das Format hat sich geändert: digital statt analog." (Joe Henderson im Interview mit P.N.Wilson, Neue Zürcher Zeitung 14.6.93)

Die Technik der Jazzimprovisation ist erlernbar geworden. In den Jazzschulen werden systematisch sämtliche Scales mit ihren Varianten durchgenommen, die den Improvisator sicher durch alle Harmonien von "Giant Steps" hindurchführen, ohne dass er auch nur einmal seine melodische Erfindungsgabe bemühen müsste.
Weiss George Russell eigentlich, was er mit seinem "Lydian Chromatic Concept of Tonal Organization" angerichtet hat? Oder richtiger: Wer von all den Scales-Spielern hat je George Russells Buch gelesen?

"In the States, in another year, in the textbooks, Duke Ellington will be noted as a white man" (Chico Hamilton in einem Fernseh-Interview mit Roman Polanski am 10.3.93)

Es ist erstaunlich, wie gering das Wissen über die Geschichte des Jazz beim Jazzpublikum und sogar bei angehenden Jazzmusikern ist. Heute ist es möglich, 15 bis 20 Jahre alte Ideen und Techniken als neu zu verkaufen. Hörer, für die die experimentelle Musik der Sechzigerjahre kein Thema ist, bewundern Fred Frith. Als Genies hochgejubelte Epigonen imitieren die Musik der belächelten Veteranen. Oft werde ich auch den Verdacht nicht los, dass im Zeitalter der CD die Fähigkeit verloren gegangen ist, aus technisch mangelhaften Aufnahmen die Musik herauszuhören.

"Und wir Kritiker, die wir uns noch keinen Deut um die Originale gekümmert hatten, beugten uns sorgenvoll über das verpfuschte Erbe." (Jean-Martin Büttner, im "DU", Juli 1993)

Wir weissen Abendländer haben einen besonderen Sinn für Historie. Alles, was wir an Kulturgütern erschaffen haben, wird sorgfältig gesammelt, konserviert und restauriert. Seit der Kolonialzeit beglücken wir auch andere Völker mit dieser unserer löblichen Eigenschaft. Wir sammeln die Kultur der aussereuropäischen Völker (zu unserem Erstaunen nicht nur zur Freude der Betroffenen), packen sie sauber ein, etikettieren sie und stellen sie in unseren Museen aus.
Vor einiger Zeit reiste eine junge Ethnologin durch Afrika, um afrikanischen Tanz zu beobachten. Während der Dauer ihres Aufenthalts war er leider nicht aufzufinden, momentan wie abwesend. Erst in Zürich fand sie ihn wieder, in den Tanzschulen, von reisenden Gruppen (Wohnort Paris) vorgetragen, vom inzwischen zwar verstorbenen Helmut Günther akribisch beschrieben in den "Beiträgen zur Tanzforschung" der renommierten Universal Edition. (Zitat: "Wieso kam es zur Verwechslung des irischen shuffle und double shuffle mit dem völlig flachfüssigen und multiplizierten Negro shuffle? Nun, beide shuffles bürsten nach vorn oder auch zur Seite, im Negro shuffle wird weiter - scheinbar ähnlich wie im double shuffle der Jig - der bürstende Fuss häufig noch einmal bei der zweiten Motion ganz leicht zurückgeschleift, bevor er endgültig das Gewicht übernimmt ...")
Was tut der nach dem Ursprünglichen und Echten lechzende Europäer, wenn sein vitales Vorbild, der fröhlich tanzende und singende Afrikaner, nicht mehr gewillt ist, seinen Part ordnungsgemäss auszufüllen, sondern schnöde in der Diskothek aus Amerika re-importierte Rhythmen konsumiert und sich dazu nicht einmal mehr stilgerecht zu bewegen weiss?
Wieso kommt mir plötzlich die alte Fabel vom Wettrennen zwischen dem langsamen Igel und dem schnellen Hasen in den Sinn? Und immer, wenn der white rabbit keuchend um die Ecke bog, sagte der Igel: "Ick bün all hier."

"Ich mag Musiker, sogar Saxophonisten..(Mick Jagger, Interview mit Chris Rasch, Neue Zürcher Zeitung 9.2.93)"


Bruno Spoerri, im August 1993