Technische Fehler als Impuls zur Kreativität - Gedanken zum Improvisieren mit der Maschine

Bruno Spoerri, Schw. Zentrum für Computermusik

Neue Zürcher Zeitung, Medien und Informatik, 8. September 2000

Improvisation soll, so ist die Meinung, spontan, unwiederholbar und individuell sein. Von der elektroakustischen Maschinerie, speziell vom Computer, wird hingegen eine präzise, genau repetierbare Ausführung von klar formulierten Instruktionen erwartet. Wie können Improvisation und Computer zusammenkommen?

Vor etwa 14 Jahren, zur Zeit unserer Experimente mit dem frühen Computermusiksystem DMX-1000, machte ich den damals relativ aussichtslosen Versuch, mit diesem System zu improvisieren. Ich stellte mir eine Anordnung vor, die auf die Klänge eines akustischen Instruments auf verschiedenartigste Weise reagiert - in der Praxis waren das zu dieser Zeit nur bescheidene variable Echo- und Halleffekte und Klangveränderungen durch Filter - aber immerhin: das war in Echtzeit machbar. Die wesentliche Idee dieses Stücks, das ich "Brouillard - débrouillé" nannte, war, dass durch eine Zufallsmanipulation vor Beginn des Stücks alle Parameter der klangbearbeitenden Programme auf irgendwelche willkürliche Werte gestellt wurden. Der Spieler hatte die Aufgabe, durch vorsichtiges Abtasten der Reaktionen zu lernen, wie das System ihm antwortet. Bildlich gesagt: am Anfang des Stücks befindet sich der Spieler im dichtesten "Brouillard", im Nebel. Durch vorsichtiges Tasten, oder auch, je nach Temperament, mutiges Hineingreifen beginnt er seine nächste Umgebung kennenzulernen, er "débrouilliert" sich immer mehr, erwirbt sich eine gewisse Sicherheit im Umgang mit seiner Umgebung, bis - und das wäre dann noch eine mögliche, heimtückische Wendung des Stücks - sich die Konstellation vielleicht unerwartet verändert und er sich in einem neuen unerforschten Terrain befindet. Diese Idee, damals nur in Ansätzen zu realisieren, mag für ernsthafte Interpreten und Komponisten recht absurd klingen. Sie ist, möglicherweise, die komprimierte Form von Erfahrungen mit Improvisation, wie sie in einem Traum, vielleicht sogar in einem Albtraum, vorkommen könnte.

Die Rolle des Störenfrieds

Traditionelle Jazzimprovisation beruht auf den ersten Blick, ganz im Gegensatz zur vorher skizzierten Idee, auf genau bestimmten Abläufen, auf repetierten Harmoniefolgen mit einem einfachen Formschema.  Dazu kommen zahlreiche stilistisch bedingte Einschränkungen: Dixieland erträgt nur wenige akkordfremde Noten, Free Jazz scheut allzu Harmonisches etc. Oft genug begnügen sich routinierte Spieler mit einer Aneinanderreihung von vorgefertigten Bausteinen, sog. "Licks", von Skalen, Zitaten und traditionellen Wendungen. Sogenannt freie Improvisatoren scheinen zwar ein grösseres Repertoire an Verhaltensweisen zu besitzen; aber auch bei ihnen sind immer wieder die gleichen Floskeln zu beobachten, die manchmal gerade aus krampfhafter Vermeidung des Einfachen, Selbstverständlichen heraus entstehen. Oft genug werden (gerade von erfolgreichen Performern) immer wieder die gleichen Kabinettstückchen vorgeführt, die garantiert publikumswirksam sind. Gute, ursprünglich originelle Improvisationen haben die Tendenz, sich "einzubrennen"; man denke nur an das berühmte Solo des Saxophonisten Coleman Hawkins über "Body and soul", das sich nach unzähligen Darbietungen kaum mehr veränderte. Kurz: Auch der beste Improvisator greift immer wieder auf vorgeformte Elemente zurück und braucht gelegentlich einen Anstoss, der ihn aus der bequemen Bahn wirft. Miles Davis, der immer wieder versuchte, seinem Spiel eine neue Wendung zu geben, gab seinen Mitspielern den Rat: "Denk an eine Note, und spiel dann eine andere". Aber auch diese mentalen Tricks genügen oft nicht: Es braucht die Intervention von aussen, die Irritation durch Mitspieler oder durch eigene spieltechnische Missgeschicke, die den Routinespieler aus seiner Bahn werfen und ihm den nötigen Anstoss zu neuer Erfindung geben.

Für Improvisatoren in der elektroakustischen Musik der Sechziger- und Siebzigerjahre, also zur Zeit der analogen Synthesizer, wurde die Rolle des Störenfrieds perfekt übernommen durch die damals verfügbaren Instrumente. Keine noch so genau notierte Voreinstellung war präzis reproduzierbar, und in der Konzertsituation geschah laufend Unerwartetes, ja Unerklärliches. Die Arbeit mit diesen Geräten zwang zu einer ständigen Anpassung des musikalischen Konzepts an neue, nicht vorhergesehene Situationen. Diese Spielsituation hatte einen eigenen Reiz; oft entwickelte sie sich wie ein Schachspiel von Zug zu Gegenzug bis zum gelegentlichen Schachmatt des überforderten Improvisators. 

Möglicherweise gibt es wegen der Unzuverlässigkeit damaliger Geräte so wenige genau notierte Stücke für analoge Synthesizer im Gebiet der Neuen Musik. Wir finden vor allem technische Anweisungen und vage grafische Notationen. Manche Komponisten der Neuen Musik hielten es auch oft nicht für nötig, sich mit trivialen technischen Einzelheiten abzugeben. Ich erinnere mich aus den Siebzigerjahren an einige Partituren, in denen irgendwo grossartig die Worte "Oszillator" oder "Ringmodulation" standen, leider ohne irgendwelche Klärung, was da nun wie oszillieren sollte oder was da mit was moduliert werden sollte.

In dieser Zeit waren es vor allem die Pop- und Jazzmusiker, die einen kleinen, aber immerhin brauchbaren Katalog von wieder erkennbaren Klängen und Klangeffekten schufen. Die typischen Sounds von Keith Emerson, Chick Corea, Herbie Hancock, Joe Zawinul etc. wurden zu erlernbaren Standardklangfarben und bildeten später die Basis für "Presets", im Gerät vorprogrammierte Einstellungen.

Die kommerzielle Einführung von mikroprozessorgesteuerten, vorprogrammierten Synthesizern, von digitalen Klangerzeugern und dann von Samplern machte aus der Kunst einiger Weniger die selbstverständliche Klangpalette aller Anwender. In jeden Synthesizer wurden als leicht abrufbare Presets die populärsten Klangfarben der Pioniergeneration eingebaut. Die digitale MIDI-Technik und die Sequenzerprogramme machten die exakte Steuerung von elektronischen Instrumenten zu einer simplen Angelegenheit. Dies war - in den Achtzigerjahren - einerseits eine wunderbare Gegebenheit und dennoch für mich zutiefst langweilig. Ich hatte in den vielen Jahren, im Umgang mit analogen unzuverlässigen Geräten, schlechte Gewohnheiten erworben: ich wartete vergeblich auf das Unerwartete.

Fehler als Anstoss zu kreativen Momenten

Nun, das Unerwartete liess nicht allzu lange auf sich warten. Wenn auch die Klangerzeuger und der sie dirigierende Computer selbst relativ fehlerfrei funktionierten, so waren doch die Verbindungen zur Aussenwelt erfreulich anfällig: vor allem die Uebermittlung und Wandlung analoger Signale zur Steuerung des Computers. Der erste Pitch-to-Midi-Converter von 1985, ein Gerät, das Tonhöhen erkennen und in Steuerkommandos wandeln sollte, verhalf zu einem interessanten Experiment. Ich steuerte mit dem Spiel des Saxophons mehrere Synthesizermodule.  Der Summen-Ausgang des Mischpultes, der den Saxophonklang zusammen mit den Klängen der gesteuerten Synthesizer enthielt, ging als Rückkopplung teilweise zurück auf den Converter. Diese scheinbar unsinnige Schaltung funktionierte dank der Unvollkommenheit des Converters wunderbar: seine langsame Reaktion und seine Tendenz, bei komplexem Input systematisch Fehler zu produzieren, führte zu Resultaten, die erstaunlich an die wunderbar undisziplinierten, aber kreativen Free-Jazz-Orchester der Siebzigerjahre erinnerten - wie etwa die englisch-afrikanische Gruppe Chris McGregor's Brotherhood of Breath.  So lange das Saxophon dominierte, folgten die Synthesizer brav mit; wenn es die Führung abgab, liess die Disziplin des "Orchesters" nach und nahm ein seltsames Eigenleben an. Leider kam ein neues, verbessertes Modell des Converters heraus, das die Tonhöhen präziser und schneller erkannte, und damit war der Effekt nicht mehr reproduzierbar und somit das Stück nicht mehr interessant.

Aehnliche Erfahrungen stellten sich ein mit anderen Schnittstellen von Mensch und Computer. Immer wieder zeigte sich, dass vor allem die "Fehler", die Störungen der genauen linearen Kommunikation den Anstoss zu kreativen Momenten gaben.

Die Entwicklung der computermusikalischen Forschung ging einen anderen Weg, der vor allem durch die Denkschemata der Artificial Intelligence geprägt war. Durch genaue Analyse bestehender Werke und Interpretationen wurde versucht, möglichst präzise das musikalische Denken nachzubilden. In den grossartigen Software-Konstruktionen der führenden Computermusikzentren, den neuronalen Netzwerken und selbstlernenden Anordnungen wurde die musikalische Intelligenz simuliert. Auf dem Papier wirken diese Forschungen plausibel. Nur, woran liegt es wohl, dass die musikalischen Resultate der meisten derartigen Konstrukte so wenig überzeugen? Liegt es daran, dass diese künstlich intelligenten Musikprogramme bestenfalls einen etwas spärlich begabten Interpreten oder einen korrekt-fleissigen Musterschüler-Musiker ersetzen?

Zeigt sich auch hier wie in der Robotikforschung, dass einfachere, aber dafür der realen Welt besser angepasste Programme zu plausibleren Resultaten führen? Die Denkmodelle der "behavior-based AI", wie sie in der Schweiz von Rolf Pfeifer und Christian Scheier vertreten wird, scheinen mir fruchtbare Ansatzpunkte zu einem besseren Verständnis interaktiver musikalischer Prozesse zu eröffnen.

Unwiederholbares Live-Ereignis

Stellen Sie sich eine Anordnung vor, die mit Hilfe einer Videokamera die Bewegungen des Interpreten zu analysieren versucht. Es zeigt sich bald, dass keine genau eindeutige Relation von Geste und Computerreaktion herstellbar ist - kleinste unbewusste Bewegungsvarianten führen zu veränderten Ergebnissen. Andererseits lässt sich bei geschickter Programmierung erreichen, dass das entstehende Gesamtbild recht genau dem entspricht, was mit der Bewegung intendiert wurde.  Der amerikanische Komponist Salvatore Martirano formulierte es so: der Interpret steuert ein grosses Flugzeug. Die allgemeine Fahrtrichtung ist klar einzuhalten, gleichzeitig geschieht aber Vieles, das nicht im einzelnen kontrollierbar ist, das sich selber reguliert und sich der bewussten Kontrolle des Piloten entzieht. 

Ich meine, dass schon einfache Reaktions-Mechanismen in der musikalischen Live-Situation, in der Spannung des Momentes, zusammen mit einem wachen Interpreten, eine Komplexität annehmen, die erstaunlich ist. Wenn es gelingt, durch die Programmation des Computers Situationen herzustellen, in denen der Improvisator intuitiv am besten reagieren kann, kommen immer wieder kreative Momente zustande. Es geht darum, die nötige Spannung, "Ueberwachheit" beim Improvisator zu erzeugen, aus der dann die interessanten "Mutationen" entstehen.

Zurück zum Anfang, zum Nebel: das Wesentliche an der Brouillard-Idee ist nicht die technische Realisation, sondern die psychische Reaktion des Improvisators, der aus der Bahn geworfen wird, der Versuch, mit technischen Mitteln die Kreativität, Spontaneität des Interpreten zu stimulieren. Die Ausschaltung des Sehens durch den Nebel sensibilisiert die anderen Sinne und führt zur Improvisation als - im unerreichbaren Idealfall - einmaliges, unwiederholbares Live-Ereignis. Im Zeitalter der beliebigen technischen Reproduzierbarkeit, der Kopierbarkeit aller Kunstwerke durch Sampling und Bildbearbeitung entstehen so Aufführungen, die nur teilweise dokumentierbar sind durch audiovisuelle Aufzeichnung, die also nur live, hier und jetzt wirklich erlebbar sind.